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Veröffentlicht: Donnerstag, 23. März 2023 18:34
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Geschrieben von Marc Brenzel (Foto: Thomas Strack)
Ex-Profi findet neues Zuhause in Leer
Westfalia Leer vertraut in dieser Saison auf einen Profitorwart. Das ist eine schöne Geschichte für den Fußball-A-Ligisten aus dem Kreis Steinfurt. Allerdings auch eine mit einem traurigen Hintergrund, denn Igor Levchenko ist nicht freiwillig im Münsterland. Der 31-jährige Ukrainer floh vor dem Krieg in seinem Heimatland und lebt seit vergangenem Sommer in dem Horstmarer Ortsteil.
Levchenko, der zuletzt für den Drittligisten FK Sumy zwischen den Pfosten stand, kommt aus Mariupol. Die einst blühende Hafenstadt am Asowschen Meer bekam von Beginn an die volle Wucht des russischen Angriffs zu spüren. "Wie es dort seit dem Krieg ist, ist nur ganz, ganz schwer zu beschreiben ...", möchte der 1,96 Meter große Hüne nicht weiter ausführen, was er dort erlebte. Mit seiner schwangeren Frau Julia und dem kleinen Sohn Andrey verließ der Leistungssportler die 440 000 Einwohner große Stadt im Verwaltungsbezirk Donezk. Die Flucht endete im rheinischen Viersen, im Juli bekamen die Levchenkos ihre neue Heimat in Leer zugewiesen. Genauer gesagt im Ortsteil Ostendorf bei Corinna Fier und ihrer Familie.
"Corinna ist meine Schwägerin. Und sie berichtete mir von Igor. Dass er Fußballer sei und gerne wieder kicken möchte. Da habe ich ihn einfach mal mit zum Training genommen. Wie gut er ist, konnte ich damals ja noch nicht wissen", erinnert sich Jochen Wolters, der bei der Westfalia die Reserve trainiert. Schnell war klar, dass Levchenko viel zu schade für die Kreisliga C wäre, und auch für die erste Mannschaft in der A-Liga überqualifiziert ist. "Wir sind ja ein kleiner Verein. Ganz weit weg vom bezahlten Fußball. Weil wir bei ihm keine falschen Vorstellungen wecken wollten, haben wir ihm das auch so gesagt", berichtet Thomas Overesch, der die „Erste“ der Rot-Weißen coacht. Aber darum ging es dem Keeper, dessen Marktwert laut Transfermarkt.de im April 2021 bei 50 000 Euro lag, auch gar nicht. Anschluss zu finden, sich sportlich zu betätigen und die Sprache zu lernen – das stünde für ihn im Vordergrund, so der Osteuropäer. Deutsch spricht er nicht, Englisch nur rudimentär. Der Handy-Übersetzer ist sozusagen das Sprachrohr zu seiner neuen Welt. "Integration. Da ist Igor bei uns genau richtig. In Leer sind wir dafür bekannt, hilfsbereit zu sein und neue Leute aufzunehmen. Und das geht doch über den Fußball am besten", weiß Jochen Wolters.
Igor Levchenko, der bei diversen ukrainischen Zweit- und Drittligisten unter Vertrag stand, betont: "Mir gefällt es in Leer klasse, wir sind hier sehr glücklich." Im Sommer 2020 probierte sich der Fan des AC Mailand erstmals im Ausland: bei Tesla Stropkov in der dritten slowakischen Liga. "Eigentlich war da alles toll, doch dann kam die zweite Corona-Welle, und alle Wettbewerbe wurden gestrichen", begründet Levchenko seine zwischenzeitliche Rückkehr in die Ukraine – nicht ahnend, dass seine zweite Auslandsstation so rein gar nichts mehr mit dem Profifußball zu tun haben würde. Stattdessen bereichern nun fünf Partien in der C-Liga und drei im Kreisoberhaus den sportlichen Lebenslauf des Keepers.
"Igor ist ein prima Typ. Ginge es nach dem Leistungsprinzip, hätte er schon in der Hinrunde jedes Spiel machen müssen. Aber er wollte niemandem seinen Platz wegnehmen und hat sich hinten angestellt. Du siehst sofort, dass der höherklassig unterwegs war. Super athletisch, super ehrgeizig – aber auch so ein echt super Charakter", lobt Torwarttrainer Armin Käthner seinen neuen Schützling. Käthner spricht allerdings auch Klartext: "Wir wollen uns nicht mit ihm profilieren. Igor muss bei einen Verein spielen, der besser zu seinen fußballerischen Kompetenzen passt als ein A-Ligist. Dabei wollen wir ihm helfen."
"Bei der Westfalia sind die Atmosphäre und die Leute einfach überragend. Und auch das Training hier ist nicht weit weg von dem Profi-Training in der Ukraine", schwärmt Levchenko von seinem neuen Club. Aber er wünscht sich: "Ich bin erst 31 Jahre alt. Da könnte ich noch fünf, sechs Saisons höher spielen. Wenigstens fünft- oder sechstklassig." Levchenko hat einen Universitätsabschluss, der ihn berechtigt, in seiner Heimat als Sportlehrer oder Trainer zu arbeiten. Eine Einberufung in die Armee steht nicht zur Debatte. Die Profisportler des Landes haben eine Zurückstellung vom Dienst an der Waffe erhalten.
Die Gedanken an die Heimat, an Familie und Freunde, die in der besetzten Stadt noch leben, kann er nicht ausblenden. Doch die Levchenkos haben in diesen Zeiten auch das geballte Glück erfahren. Am 17. September wurde ihre Tochter geboren. Ein Datum, das sich auch bei Jochen Wolters irgendwie eingebrannt hat: "Ich stand gerade vor dem Spiegel und habe mir meine Krawatte gebunden. Meine Schwägerin und mein Schwager haben an dem Tag nämlich Silberhochzeit gefeiert. Da schickte mir Igor eine Nachricht, dass es so weit wäre und er einen Fahrer bräuchte. Unser Co-Trainer Carsten Bußmann hat sich dann ganz spontan ins Auto gesetzt und Julia und Igor ins Krankenhaus nach Coesfeld gebracht. Und später war die Kleine dann da."
Die Kleine heißt Varvara und dürfte eigentlich alle Anlagen haben, selbst mal erfolgreich gegen den Ball zu treten: Das Talent und den Ehrgeiz des Vaters sowie das große Herz der Leerer.